Armut

Obdachlose Menschen in Indien (Foto: Vereinte Nationen)

Die Hoffnung, dass die Armut, zumindest die extreme Armut mittelfristig aus unserem Leben verschwinden werde, hat nun einen schweren Dämpfer erlitten – durch Corona. Aber war denn diese Hoffnung jemals irgendwie berechtigt? Worauf fußte sie?

Dieser Optimismus hat seinen Ursprung in der Millenniumserklärung der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2000. Damals setzten sich die Länder der Erde zum Ziel, die extreme Armut bis zum Jahr 2015 zu halbieren? Ist das gelungen?

Bevor wir diese Frage beantworten, müssen wir erst einmal die Frage klären, was ist  extreme Armut? Die im letzten Jahrhundert übliche Messzahl Bruttosozialprodukt bzw. Volkseinkommen pro Kopf, wurde schon lange zu den Akten gelegt, da sie ja die Ungleichverteilung in der Bevölkerung nicht berücksichtigt. Die UN haben sich dafür entschieden, Armut nicht relativ zu messen, sondern absolut. Die meisten Länder messen Armut relativ, also z.B.: Als arm gilt, wer weniger als 50 Prozent des durchschnittlichen Einkommens bezieht.

Die UN haben einen absoluten Wert festgelegt: Wer weniger als einen Dollar zur Verfügung hat, gilt als extrem arm. Dabei wird nicht der US-Dollar zugrunde gelegt, sondern das Kaufkraftäquivalent eines Dollars, das durch einen Warenkorb ermittelt wird (Dollar ppp: purchasing power parity). Nachdem Kritik laut wurde, dass die Messzahl die Inflation nicht berücksichtige, wurde die Ausgangszahl heraufgesetzt auf zunächst 1,25 $ ppp auf die heute gültige Zahl von 1,90 $ ppp. 

1,90 Dollar am Tag gilt also als der (fiktive) Betrag, mit dem man unter den örtlichen Bedingungen gerade noch so überleben kann. Die extrem Armen leben also unter diesem Existenzminimum. Die Vereinten Nationen haben sich zum Ziel gesetzt, den Anteil der extrem Armen an der Bevölkerung von 1990 bis 2015 zu halbieren. Ob es ihnen gelungen ist, zeigt das folgende Diagramm.

Die Antwort lautet also eindeutig ja, das Ziel wurde sogar übertroffen. Wie kam das zustande? Die geografische Darstellung der Entwicklung in den Weltregionen liefert hier eindeutige Hinweise:

Während Ostasien also 1990 zusammen mit Afrika noch zu den ärmsten Regionen zählte, ist dort der Anteil der extrem Armen bis 2015 auf unter 5 Prozent gesunken. Den zeitlichen Ablauf zeigt das folgende Diagramm:

In diesem Diagramm fehlen einige Regionen, nicht nur wegen der besseren Übersichtlichkeit. Die „Kurve“ für die arabischen Länder fehlt deshalb, weil man sie nur schätzen kann, denn es liegen nicht genug Daten vor. Insbesondere in den Ländern, in denen viele „Wanderarbeiter“ tätig sind, stellt sich die Frage, ob diese zur Bevölkerung des Staates zu zählen sind oder nicht.  

Die Situation in den arabischen Ländern ist äußerst unterschiedlich. Eine Meldung der Tagesschau vom 3.8.2020 beleuchtet die Lage in einem dieser Länder:

„Ausländische Wanderarbeiter, die für einen Hungerlohn unter unmenschlichen Bedingungen und bei Gluthitze FIFA-Stadien bauen: Bilder, die international für Empörung und scharfe Kritik an Katar gesorgt haben. In einem der (öl-)reichsten Länder der Welt wurden und werden Menschen wie Sklaven ausgebeutet. Jetzt reagiert das Emirat und führt einen allgemein gültigen Mindestlohn ein.

Wie das Arbeitsministerium in Doha mitteilte, müssen Arbeitskräfte künftig mindestens 1000 Riyal – umgerechnet 231 Euro – für einen Monat Vollzeitarbeit bekommen. Das entspricht umgerechnet einem Stundenlohn von etwa einem Euro. Arbeitgeber müssen ihren Beschäftigten zudem Verpflegung und eine Unterkunft bereitstellen – oder aber ihnen weitere 800 Riyal pro Monat zahlen.

Außerdem wird es Angestellten erleichtert, ihren Arbeitgeber zu wechseln. Bislang hatten sie bei einem Jobwechsel eine Bescheinigung vorlegen müssen, dass ihr bisheriger Arbeitgeber keine Einwände dagegen erhebt.

Erst vor einigen Tagen noch hatten Menschenrechtler von Human Rights Watch einen Bericht vorgelegt, in dem sie die bisherigen Bemühungen Katars zur Verbesserung der Bedingungen für Wanderarbeiter als unzureichend kritisierten. Danach müssen Arbeiter zum Teil hungern, weil Arbeitgeber die Löhne illegal zurückhielten. Arbeitskräfte aus dem Ausland machen 90 Prozent der Bevölkerung des reichen Golfstaates aus.

Quelle: https://www.tagesschau.de/wirtschaft/katar-mindestlohn-101.html

Hierzu ist anzumerken, dass 231 € im Monat nur knapp über der Armutsgrenze von 5,50 $ liegen. Dieser Mindestlohn wurde auch erst jetzt, unter dem Druck der Weltöffentlichkeit eingeführt. Dass die Arbeiter ihre Stelle nur mit Zustimmung des bisherigen Arbeitgebers wechseln durften, ist mit den fundamentalen Menschenrechten sicher nicht zu vereinbaren. Die Situation in diesem Land  kontrastiert auf jeden Fall erheblich mit der Bemerkung von Franz Beckenbauer, er habe in Katar „keinen einzigen Sklaven gesehen“.   

Armut und extreme Armut

Was sich also in den Jahren 1990 bis 2015 so dramatisch verändert hat, ist die wirtschaftliche Lage Ostasiens, insbesondere Chinas. Das Land ist zweifellos zum Wachstumsmotor nicht nur der Region sondern der ganzen Welt geworden. Aber ist denn die Armut in China wirklich so schnell vollständig verschwunden? Wie sieht es aus, wenn wir nicht nur nach der extremen Armut sondern nach der Armut generell fragen?

Auch dafür haben die UN absolute Messzahlen eingeführt, nämlich die Grenzwerte von 3,30 und 5,50 $ ppp. Die folgende Grafik zeigt die globale Entwicklung der Armut mit dem Messwert 5,50 $ pro Tag.

Wir sehen, dass hier eine sehr viel flachere Kurve, von einer Halbierung bei der Armut insgesamt kann also keine Rede sein.

Auch in Ostasien ist also die Armut keineswegs vollständig verschwunden. Dennoch ist die Entwicklung in Ostasien durchaus eindrucksvoll.

Aber man darf sich von der Einkommensentwicklung nicht täuschen lassen. Das Inlandsprodukt des Landes ist das zweithöchste der Welt. Aber China hat eine riesige Bevölkerung. Rechnet man das BIP auf die einzelnen Einwohner um, so muss man unweigerlich zu dem Schluss kommen, den auch die Armutsentwicklung bestätigt: China ist trotz allem weiterhin ein armes Land.
Nancy Quian im ipg-Journal:
Den meisten Ökonomen ist daher Chinas BIP pro Kopf – oder anders ausgedrückt: das Einkommen pro Person – wichtiger. Und die zentrale Erkenntnis ist hier, dass China trotz des phänomenalen Wachstums seines BIP in den vergangenen vier Jahrzehnten auch weiterhin ein armes Land bleibt. 2019 betrug Chinas BIP pro Kopf 8 242 US-Dollar. Damit liegt das Land zwischen Montenegro (8 591 US-Dollar) und Botsuana (8 093 US-Dollar). Sein BIP pro Kopf nach Kaufkraftparität – das heißt nach Bereinigung des Einkommens unter Berücksichtigung der Lebenshaltungskosten – betrug 16 804 US-Dollar. Dies liegt unter dem weltweiten Durchschnitt von 17 811 US-Dollar, und China belegt damit den 86. Platz in der Welt, zwischen Surinam (17 256 US-Dollar) und Bosnien und Herzegowina (16 289 US-Dollar). Im Gegensatz dazu beträgt das BIP pro Kopf nach Kaufkraftparität in den USA und der EU 65 298 bzw. 47 828 US-Dollar.
https://www.ipg-journal.de/regionen/asien/artikel/die-zwei-seiten-des-chinsesischen-wirtschaftswachstums-5184/?utm_campaign=de_40_20210518&utm_medium=email&utm_source=newsletter

Zum Schluss noch je eine Karte für die Armut und die extreme Armut auf Länderebene, damit Sie sich ein Bild über die Unterschiede innerhalb der Regionen machen können.

Wie geht es weiter mit der globalen Armutsentwicklung? Auf dem UN-Gipfel am 25. September 2015 wurde die „Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung“ verabschiedet. Ziel 1 lautet, bis 2030 Armut in jeder Form und überall zu beenden. Das klingt mehr als ehrgeizig, und ist mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit nicht erreichbar.

Schon bei der Zurückdrängung der extremen Armut zeigt sich nämlich eine Verringerung der Abnahmegeschwindigkeit. Von 2015 bis 2019 sank die extreme Armut nur noch von 10 auf 8,2 Prozent, deutlich langsamer als in den Jahren davor.

Durch Corona kommt es zum ersten Mal seit 30 Jahren zu einem Wiederanstieg der extremen Armut. Für 2021 schätzen die Experten der UN den Stand der extremen Armut auf 8,8 Prozent. Da die Entwicklung der Pandemie aber unberechenbar ist, könnte die Armutsbekämpfung wegen Corona einen noch viel stärkeren Rückschlag erleiden.

https://www.un.org/Depts/german/millennium/SDG%20Bericht%202020.pdf

https://www.bmz.de/de/service/lexikon/armut-14038

https://nachhaltig-entwickeln.dgvn.de/agenda-2030/ziele-fuer-nachhaltige-entwicklung/sdgs/#c21161

Armut wird jedoch nicht nur durch das Einkommen definiert. Eine wichtige Rolle spielt auch der Zugang der Bevölkerung zur Basis-Infrastruktur: Sanitäre Anlagen, Strom- und Wasserversorgung. Dazu stelle ich einen kleinen Atlas als pdf zur Verfügung